Chancen und Risiken der ADHS-Diagnose im beruflichen Kontext
Positive Aspekte einer ADHS-Diagnose im Berufsleben
Mehr Selbstverständnis und psychische Entlastung
Für viele Erwachsene bedeutet die Diagnose ADHS zunächst ein tiefes Aufatmen. Jahrelange Schwierigkeiten mit Organisation, Zeitmanagement oder Konzentration erhalten eine neurologische Erklärung. Die Selbstzuschreibung „ich bin faul oder undiszipliniert“ wird durch ein „ich ticke anders – und jetzt weiß ich warum“ ersetzt. Diese Neubewertung kann zu emotionaler Entlastung und einem besseren Selbstwertgefühl führen (Kessler et al., 2006; Gibson, 2022).
Zugang zu gezielter Unterstützung
Mit der Diagnose eröffnen sich neue Unterstützungswege. Neben der Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung (z. B. mit Stimulanzien wie Methylphenidat) erhalten Betroffene Zugang zu Verhaltenstherapie, ADHS-Coaching und psychoedukativen Gruppen. Dies fördert nicht nur die individuelle Leistungsfähigkeit, sondern stabilisiert auch das Berufsleben langfristig (National Institute for Health and Care Excellence, 2018).
Anspruch auf arbeitsbezogene Anpassungen
Rechtlich gesehen ermöglicht eine Diagnose auch, bestimmte Arbeitsplatzanpassungen zu beantragen – z. B. flexible Arbeitszeiten, strukturiertere Aufgabenübergabe oder Zugang zu ruhigen Arbeitsplätzen. Arbeitgeber sind nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG, § 3) dazu verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu treffen, wenn eine psychische Beeinträchtigung vorliegt. Studien zeigen, dass neurodiversitätsfreundliche Unternehmen oft resilienter und innovativer sind (McKinsey, 2021).
Potenziale besser nutzen: Kreativität, Hyperfokus, Intuition
ADHS wird oft ausschließlich defizitorientiert betrachtet – dabei gehen mit der neurologischen Konstellation auch spezifische Stärken einher: eine hohe kreative Denkleistung, blitzschnelle Verknüpfung von Ideen, intensives Engagement in interessanten Projekten (Hyperfokus), sowie eine besondere Empathie für komplexe Zusammenhänge (Hallowell & Ratey, 1994). In dynamischen, innovationsgetriebenen Arbeitsfeldern sind das wertvolle Ressourcen.
Beitrag zu mehr psychologischer Sicherheit im Team
Wenn Betroffene offen mit ihrer Diagnose umgehen (sofern die Unternehmenskultur das zulässt), kann das zu einer offenen Kommunikation beitragen und andere ermutigen, ebenfalls über Belastungen zu sprechen. Dies fördert laut Amy Edmondson (1999) psychologische Sicherheit – eine zentrale Voraussetzung für vertrauensvolle, leistungsfähige Teams.
Herausforderungen und Risiken der Diagnose im Beruf
Risiko von Stigmatisierung und Fehleinschätzung
Trotz wachsender Aufklärung existieren nach wie vor viele Vorurteile über ADHS. Kolleg\:innen oder Vorgesetzte könnten die Diagnose als Hinweis auf Instabilität, Ablenkbarkeit oder emotionale Unreife missverstehen. Gerade in konservativen Branchen oder hierarchischen Strukturen besteht die Gefahr, dass Betroffene bei Beförderungen übergangen oder bei sensiblen Projekten außen vor gelassen werden – auch wenn das rechtlich problematisch ist (Harvard Business Review, 2020).
Belastung durch Offenlegungspflicht (trotz rechtlicher Freiwilligkeit)
Ob man die Diagnose am Arbeitsplatz offenlegt, ist eine komplexe Entscheidung. Rechtlich besteht keine Pflicht – praktisch jedoch oft ein indirekter Zwang, etwa wenn Anpassungen notwendig sind. Diese Offenheit kann je nach Unternehmenskultur entlastend oder riskant sein. In schlecht informierten Teams drohen Stigmatisierung oder “Labeling-Effekte”, bei denen Kolleg\:innen die Diagnose als alleinige Erklärung für Verhalten heranziehen (Corrigan, 2004).
Identitätskrise nach der Diagnose
Die neue Diagnose kann auch emotionale Turbulenzen auslösen. Viele Erwachsene fragen sich: „Was wäre gewesen, wenn ich das früher gewusst hätte?“ oder „Beruht mein Erfolg nur auf Überanpassung?“ (Gibson, 2022). Diese retrospektive Re-Interpretation des eigenen Lebenswegs kann temporär verunsichern und depressive Episoden auslösen – besonders dann, wenn wenig soziale Unterstützung vorhanden ist.
Schwierigkeiten mit der Medikation im Arbeitskontext
Nicht alle Betroffenen sprechen gut auf Medikamente an, und auch wenn sie wirken, treten Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Gereiztheit oder Appetitverlust auf. Gerade in Berufen mit hohem sozialen oder kreativen Anspruch kann die Balance zwischen Wirkung und Nebenwirkung schwierig sein. Die Phase des Ausprobierens („Titration“) erfordert zudem Geduld – im beruflichen Alltag oft ein knappes Gut (NICE, 2018).
Diagnostischer Fokus auf Defizite kann Ressourcen verschatten
Ein rein klinischer Zugang zur Diagnose – vor allem in medizinisch geprägten Settings – kann die Sicht auf die Potenziale der Betroffenen verstellen. Wenn die Diagnose ausschließlich auf die Behebung von "Defiziten" abzielt, verlieren sich Kreativität, Intuition und Innovationsfähigkeit im Schatten therapeutischer Zielvorgaben (Ries, 2011).
Zusammenfassung – Chancen und Risiken einer ADHS-Diagnose im Berufsleben
Quellen
Kessler, R. C., Adler, L., Ames, M., Barkley, R. A., Birnbaum, H., Greenhill, L., ... & Spencer, T. (2006).
The prevalence and effects of adult attention-deficit/hyperactivity disorder on work performance in a nationally representative sample of workers.
Journal of Occupational and Environmental Medicine, 48(6), 568–575.
https://doi.org/10.1097/01.jom.0000214871.51193.82
Gibson, S. (2022).
The Hidden Costs of Late ADHD Diagnosis: Identity, Memory, and the Workplace.
In: Gibson, S. (Ed.), Adult ADHD in Context: Rethinking Identity and Diagnosis.
Routledge.
National Institute for Health and Care Excellence (NICE). (2018).
Attention deficit hyperactivity disorder: Diagnosis and management (NICE Guideline NG87).
https://www.nice.org.uk/guidance/ng87
Edmondson, A. (1999).
Psychological safety and learning behavior in work teams.
Administrative Science Quarterly, 44(2), 350–383.
https://doi.org/10.2307/2666999
McKinsey & Company. (2021).
Neurodiversity as a competitive advantage: Why you should embrace it now.
https://www.mckinsey.com/featured-insights/diversity-and-inclusion/the-case-for-inclusion
Hallowell, E. M., & Ratey, J. J. (1994).
Driven to Distraction: Recognizing and Coping with Attention Deficit Disorder from Childhood through Adulthood.
New York: Touchstone.
Harvard Business Review (HBR). (2020).
Neurodiversity as a Talent Strategy: The Risks and Rewards of Disclosure.
Austin, R. D., Pisano, G. P.
https://hbr.org/2020/05/neurodiversity-as-a-competitive-advantage
Ries, E. (2011).
The Lean Startup: How Today's Entrepreneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses.
New York: Crown Publishing Group.
Corrigan, P. W. (2004).
How stigma interferes with mental health care.
American Psychologist, 59(7), 614–625.
https://doi.org/10.1037/0003-066X.59.7.614