Die Problematik der ADHS-Selbstdiagnose aus wissenschaftlicher Sicht
Die zunehmende mediale Präsenz und Entstigmatisierung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hat zu einem gesteigerten öffentlichen Bewusstsein geführt. Parallel dazu ist ein Anstieg von Selbstdiagnosen zu beobachten, die oft auf Basis von Online-Tests und Social-Media-Inhalten erfolgen. Aus klinisch-wissenschaftlicher Perspektive ist dieser Trend jedoch mit erheblichen Risiken verbunden und kann einer validen Diagnosestellung und adäquaten Behandlung im Wege stehen. Die Problematik gründet sich primär auf drei Faktoren: der Komplexität der Differenzialdiagnose, der hohen Rate an Komorbiditäten und dem Einfluss kognitiver Verzerrungen bei der Selbstbeurteilung.
Komplexität der Differenzialdiagnose und Symptomüberlappung
Die Kernsymptome der ADHS – Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität – sind keineswegs pathognomonisch, d.h. nicht spezifisch für diese Störung. Eine Vielzahl anderer psychischer und somatischer Erkrankungen kann eine ähnliche Symptomatik hervorrufen. Eine professionelle Diagnostik, wie sie in der deutschen S3-Leitlinie "ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen" festgeschrieben ist, erfordert daher zwingend eine umfassende differenzialdiagnostische Abklärung (DGKJP, DGPPN, 2018).
Zu den wichtigsten Differenzialdiagnosen, deren Symptome mit denen der ADHS überlappen, gehören unter anderem:
Laien sind nicht in der Lage, diese komplexen Abgrenzungen vorzunehmen, was das Risiko einer Fehldiagnose und folglich einer schädlichen oder ineffektiven Behandlung massiv erhöht.
Hohe Komorbiditätsrate
Ein weiteres zentrales Problem ist die hohe Prävalenz komorbider, also gleichzeitig auftretender, Störungen bei Menschen mit ADHS. Systematische Reviews und Meta-Analysen zeigen, dass ein Großteil der Betroffenen mindestens eine weitere psychische Erkrankung aufweist. So sind oppositionelle Verhaltensstörungen und Angststörungen die häufigsten Komorbiditäten im Kindes- und Jugendalter (Reale et al., 2017). Bei Erwachsenen treten besonders häufig Angststörungen, Depressionen, Substanzgebrauchsstörungen und Persönlichkeitsstörungen auf (Katzman et al., 2017).
Eine Selbstdiagnose, die sich ausschließlich auf ADHS fokussiert, birgt die Gefahr, diese komorbiden Störungen zu übersehen. Dies ist klinisch hochrelevant, da die Behandlungsstrategie maßgeblich von dem Vorhandensein und der Art der Komorbidität abhängt. In vielen Fällen muss die komorbide Störung sogar vorrangig oder parallel behandelt werden, um einen Therapieerfolg zu ermöglichen.
Kognitive Verzerrungen bei der Selbstbeurteilung
Die menschliche Wahrnehmung unterliegt systematischen Denkfehlern (cognitive biases), die eine objektive Selbstbeurteilung erschweren. Im Kontext der Selbstdiagnose sind vor allem zwei Effekte relevant:
Diese kognitiven Verzerrungen führen dazu, dass alltägliche Schwierigkeiten oder temporäre Belastungsreaktionen fälschlicherweise als pathologische Symptome einer spezifischen Störung interpretiert werden.
Fazit
Die Selbstdiagnose einer ADHS ist aus wissenschaftlicher Sicht als hochproblematisch einzustufen. Sie kann der Komplexität der Symptomüberlappung mit zahlreichen anderen Störungen nicht gerecht werden, birgt das hohe Risiko des Übersehens relevanter Komorbiditäten und ist anfällig für kognitive Verzerrungen, die zu einer falschen Selbsteinschätzung führen. Eine valide Diagnose erfordert zwingend eine umfassende, multimodale Untersuchung durch erfahrene Kliniker, die eine vollständige Anamnese, Fremdbeurteilungen, eine differenzialdiagnostische Abklärung und standardisierte Testverfahren umfasst, wie es die aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien vorsehen. Nur auf dieser Grundlage kann eine sichere Diagnose gestellt und ein individueller, wirksamer und sicherer Behandlungsplan erstellt werden.
Quellen
Asherson, P., et al. (2014). "Differential diagnosis, comorbidity, and treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder in relation to bipolar disorder or borderline personality disorder in adults." Current Medical Research and Opinion, 30(8), 1657–1672.
Blumenthal-Barby, J. S., & Krieger, H. (2015). "Cognitive biases and heuristics in medical decision making: a critical review using a systematic search strategy." Medical Decision Making, 35(4), 539–557.
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) & Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). (2018). S3-Leitlinie: Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. AWMF-Registernummer 028-045.
Katzman, M. A., et al. (2017). "Adult ADHD and comorbid disorders: clinical implications of a dimensional approach." BMC Psychiatry, 17(1), 302.
Reale, L., et al. (2017). "Rate of Comorbidity for ADHD and ODD: A Systematic Review and Meta-Analysis." Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 56(10), 824–832.
Wingo, A. P., & Ghaemi, S. N. (2007). "A systematic review of rates and diagnostic validity of comorbid adult attention-deficit/hyperactivity disorder and bipolar disorder." Journal of Clinical Psychiatry, 68(11), 1776–1784.